Stiftung Werner-von-Siemens-Ring | EVELINE GOTTZEIN – Ringträgerin 1993

EVELINE GOTTZEIN – Ringträgerin 1993

Über die Person

Eveline Gottzein
* 30. September 1931 in Leipzig

† 24. Dezember 2023 in Höhenkirchen

Der Rat der Stiftung Werner-von- Siemens-Ring hat in der Sitzung 13. Dezember 1993 beschlossen, Frau Dr.-Ing. Dipl.-Math. Eveline Gottzein den „Werner-von-Siemens-Ring“ – Ehrenring für Verdienste um Naturwissenschaft und Technik – zu verleihen. Der Stiftungsrat würdigt mit diesem Beschluss ihre Verdienste um die Entwicklung und Realisierung von Regelungssystemen für Hochgeschwindigkeitsmagnetbahnen und Satelliten.

Vordenkerin und Umsetzerin bahnbrechnder Regelungssysteme für Magnetschwebebahnen, Satelliten und Weltraumfahrzeuge

Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wurde der Werner-von-Siemens-Ring für hervorragende Beiträge zur Verwirklichung von Verkehrssystemen verliehen, die 100 Jahre zuvor kaum mehr als eine gewagte Vision gewesen wären.

Die hohe Auszeichnung galt zum ersten Mal in der Geschichte der Stiftung einer Frau, und dies ist ein Beweis dafür, dass sich seit der Gründung der Stiftung nicht nur Wissenschaft und Technik, sondern auch das gesellschaftliche Selbstverständnis grundlegend weiter entwickelt haben.

Eveline Gottzein wurde am 30. September 1931 in Leipzig geboren. Das Elternhaus vermittelte ihr Liebe zur Natur und die Begeisterung für Technik, wobei wohl insbesondere der Vater als Maschinenbauingenieur die handwerklichen und technischen Interessen seiner Tochter zu fördern wusste. Sie beteiligte sich begeistert an Bau und Erprobung von Segelflugmodellen, was damals sicher nicht ganz selbstverständlich für ein Mädchen von 10 bis 12 Jahren war.

In der Oberschule entwickelte sie eine besondere Vorliebe für Mathematik und Naturwissenschaften, doch wurde ihr in der DDR ein Studium nach dem Abitur 1949 wegen „fehlender gesellschaftlicher Reife“ zunächst verwehrt. Im Abiturzeugnis steht jedoch: „Die Leistungen in Mathematik, Physik und Chemie überragen weit die im Lehrplan gestellten Forderungen.“

So absolvierte sie zunächst eine Lehre als Elektrotechnikerin im Radio- und Fernmeldewerk Leipzig. Hier befasste sie sich bereits mit der Entwicklung von Verstärkern, Messsendern und Frequenzgeneratoren und machte erste Erfahrungen mit dem Rückkopplungsprinzip, einer elementaren Grundlage von Regelkreisen.

Schließlich konnte sich Eveline Gottzein doch an der Technischen Universität Dresden im Studienfach „Elektrotechnik“ einschreiben, wechselte aber nach zwei Jahren in das Studium von Mathematik und Physik. In die Zeit ihres Studiums in Dresden fällt auch bereits ein erster Beratervertrag mit einer Firma für wissenschaftlich-technischen Gerätebau, der die Entwicklung eines elektronischen Analogrechners zum Gegenstand hatte (MOSYAN: Modell für Synthese und Analyse). Das Ergebnis wurde als eine Attraktion auf der Leipziger Messe ausgestellt.

Sicher war es 1957 für die damals 26-jährige Studentin ein schwerer Entschluss, Dresden und alles sonst Vertraute zu verlassen und „in den Westen“ zu gehen. Was würde sie nach gelungener Flucht und nach dem Aufnahmelager in der Bundesrepublik erwarten? Es waren wohl die Namen von bedeutenden Hochschullehrern wie Karl Küpfmüller – ihm wurde der Werner-von-Siemens-Ring 1968 verliehen – und Winfried Oppelt, die sie aus der Literatur kannte, derentwegen sie die Technische Hochschule Darmstadt zur Fortsetzung des Studiums wählte. Dort erwarb sie 1962 das Diplom in Mathematik.

Auf diese Lehrjahre folgten Wanderjahre im Beruf. Sie fand unter anderem Beschäftigung im Europäischen Simulationszentrum eines amerikanischen Unternehmens in Brüssel und beinahe wäre sie einer Einladung in die USA gefolgt. Gerade noch rechtzeitig erreichte sie ein Angebot der Firma Bölkow KG in Ottobrunn. Über ihre Anfangszeit dort schrieb sie: „Die Aufgaben waren anspruchsvoll und reizvoll, das Arbeitsfeld noch weitgehend unstrukturiert und die Hierarchie ein Fremdwort. Das war genau das Richtige für eine tatenhungrige junge Wissenschaftlerin und Ingenieurin“. Schließlich galt es ja, in einer aufstrebenden, von Öffentlichkeit und Politik nachdrücklich unterstützten Industrie, Neuland zu erschließen.

Bereits 1963 wurden Eveline Gottzein mit dem Aufbau einer Abteilung für Flugkörperregelung auch Leitungsaufgaben übertragen. Sie war damals gerade erst 32 Jahre alt. In der Luft- und Raumfahrt sind die Regelkreise komplexe physikalische Systeme, die erkannt, verstanden und durch mathematische Modelle beschrieben werden müssen. Solche Aufgaben können nur in interdisziplinärer Teamarbeit geleistet werden, denn es wird Fachwissen auf vielen Gebieten benötigt, und dies alles muss koordiniert werden.

In diese Phase fällt mit der Entwicklung der Lageregelung für den deutsch-französischen Nachrichtensatelliten „Symphonie“ auch der Einstieg in die europäische Raumfahrt. Der Start der beiden Symphonie-Satelliten erfolgte 1974 bzw. 1975. Die Abteilung wuchs im Rahmen dieser anspruchsvollen Arbeiten bis auf 90 Mitarbeiter.

In der Technik lässt sich nie alles theoretisch festlegen, die letzte Gewissheit liefert erst das Experiment. So wurden nach den Entwürfen von Gottzein große Prüfanlagen zur Untersuchung von Lageregelungssystemen der Luft- und Raumfahrt unter realistischen Bedingungen entwickelt, die später sogar zu einem eigenen Geschäftszweig der 1969 durch Fusionen entstandenen Messerschmitt-Bölkow-Blohm GmbH (MBB GmbH) wurden; allein nach Japan wurden sechs solcher „Bewegungssimulatoren“ geliefert.

Das nächste Kapitel der technisch-wissenschaftlichen Leistungen von Eveline Gottzein begann etwa 1970 als Folge einer Studie über den Güterverkehr auf einer Hochleistungsschnellbahn. Darin war für ein spurgeführtes Schnellbahnsystem eine optimale Geschwindigkeit von etwa 400 km/h errechnet worden. Untersucht wurden dabei neben Rad-/Schienentechnik auch futuristische Hochgeschwindigkeits-Magnetbahnen. Ihre Abteilung sollte dafür Trag- und Führsysteme konzipieren und entwickeln, die auf gesteuerten Elektromagneten beruhen.

Von Flugregelungen lagen bereits beste Erfahrungen vor, „Fliegen auf Höhe Null“ war der nahe liegende Lösungsansatz. Zur Lösung grundsätzlicher Fragen zur Realisierbarkeit und Erprobung robuster, praxistauglicher Konzepte für mechanischen Aufbau und Regelung von Trag- und Führsystemen zum Einsatz in Hochgeschwindigkeits- Magnetbahnen entwickelte und baute MBB zwischen 1970 und Ende 1984 vier Magnetfahrzeuge. Die Fahrzeuge dienten der Erprobung von insgesamt sechs unterschiedlichen Trag- und Führsystemen und der Erschließung des Einsatzbereiches bis hin zum anwendungsnahen Transrapid 06. Jedes dieser Systeme war ein konsequenter weiterer Schritt in Richtung Hochgeschwindigkeits-Magnetbahn, jeder Schritt war aber auch technisches Neuland.

In dieser Zeit entstand die von Gottzein 1983 an der Fakultät für Maschinenwesen der Technischen Universität München eingereichte Dissertation, die unter Fachleuten als eine herausragende wissenschaftliche Leistung angesehen wird. Der Titel ist zugleich eine Kurzbeschreibung des gewählten Systemkonzepts: „Das ‚Magnetische Rad‘ als autonome Funktionseinheit modularer Trag- und Führungssysteme für Magnetbahnen“.

Bei dem uns allen vertrauten mechanischen Rad werden die für Tragen, Spurführung, Antrieb und Bremsen erforderlichen Kräfte durch mechanischen Kontakt punktförmig vom Fahrzeug auf den Fahrweg übertragen. Bei dem „Magnetischen Rad“ erfolgt diese Kraftübertragung nicht nur berührungslos, sondern wird auch durch viele voneinander unabhängige, über die Länge des Fahrzeugs verteilte, elektromagnetische Funktionseinheiten gleichmäßig auf den Fahrweg übertragen. Jeder Magnet trägt nominal den gleichen Anteil an Fahrzeuggewicht. Die Lösung gewährleistet hohe „funktionelle“ Redundanz, falls doch einmal einer der Magnete ausfallen sollte.

Die Weiterentwicklung der Magnetschwebetechnik wurde zur rechten Zeit durch die Idee eines integrierten Trag- und Antriebssystems begünstigt. Professor Herbert Weh von der Technischen Universität Braunschweig schlug dazu vor, den Ständer des zum Antrieb erforderlichen Linearmotors in den Fahrweg zu verlegen und die Tragmagnete als Erregermagnete des Motors einzusetzen.  Dies bringt erhebliche Gewichtsersparnis im Fahrzeug, denn anstelle eines asynchronen Linearmotors einschließlich Steuergeräten im Fahrzeug wird die Wicklung des synchronen Linearmotors über die Länge des Fahrwegs verteilt, was etwa dem mechanischen Abbild eines Förderbandes entspricht, das durch einzeln angetriebene Rollen bewegt wird. Überdies braucht die elektrische Leistung zum Antrieb nicht durch Stromabnehmer oder andere Systeme auf das Fahrzeug übertragen zu werden.

Erkenntnisse und Ergebnisse aus der Erprobung der Magnetbahnen, die nach diesem Prinzip gebaut wurden, haben die theoretischen Überlegungen der Abteilung Gottzein glänzend bestätigt. Der so ausgerüstete TRANSRAPID 06 von MBB hat 1987 auf der 31,5 km langen TRANSRAPID-Versuchsanlage Emsland (TVE) mit 460 km/h damals den Weltrekord für Magnetbahnen aufgestellt.

Eine dritte Schaffensperiode von Eveline Gottzein begann bereits etwa 1975 und galt wieder verstärkt der Bahn- und Lageregelung in Flugtechnik und Raumfahrt. Seit den 1967 auf diesem Gebiet begonnenen Entwicklungsarbeiten waren in der Satellitentechnik weltweit große Fortschritte erzielt worden. Aufbauend auf den Erfahrungen insbesondere aus Symphonie galt es, die Bahn- und Lageregelungssysteme weiter zu entwickeln und im harten internationalen Wettbewerb auch in den USA durchzusetzen. Eine in verwandten Aufgaben erfahrene, gut eingespielte und im interdisziplinären Handeln geschulte Mannschaft stand bereit und erfüllte damit eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Arbeit.

Ein neuer Lösungsansatz war die so genannte Dreiachsenstabilisierung, wobei der Satellit mit den Antennen mittels Sonnen- und Erdsensoren auf die Erde und die Solargeneratoren zur Sonne ausgerichtet werden. Diese Entwicklungen führten schließlich mit dem Start des Nachrichtensatelliten INTELSAT V zu einem Einstieg in den internationalen Markt. Ab 1980 sind von MBB 32 Nachrichtensatelliten mit der neuartigen Bahn- und Lageregelung ausgerüstet worden.

Gottzein begann schon 1989 damit ihre Erfahrungen in der Regelung von Raumfahrzeugen durch Lehrveranstaltungen an der Universität Stuttgart, die sie zur Honorarprofessorin berief, weiterzugeben. Ihr Rat als wissenschaftliche Expertin war auch lange nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben viel gefragt, insbesondere bei den Raumfahrtaktivitäten der European Aeronautic Defence and Space Company (Astrium EADS) und als Mitglied des Kuratoriums der Physikalisch-Technischen-Bundesanstalt (PTB).

In Würdigung ihrer Verdienste um die Entwicklung und Realisierung von Regelungssystemen für Hochgeschwindigkeits- Magnetbahnen, Satelliten und andere Weltraumfahrzeuge wurde ihr 1993 der Werner-von- Siemens-Ring verliehen und im folgenden Jahr in einer Feierstunde in der Münchner Residenz überreicht.

Sie schließt ihre Dankesrede am Ende der Veranstaltung mit den Worten: „Ich hatte das Glück, mit meinem Team beim Aufbau der Deutschen Raumfahrt den wichtigen Bereich Regelung und Steuerung mitzugestalten. Den Mitarbeitern, die so viel Arbeit geleistet und mir geholfen haben, viele Ideen zu verwirklichen, gilt mein Respekt und Dank ebenso wie Herrn Dr. Bölkow, der durch hochgesteckte Ziele und großartige Arbeitsbedingungen die Voraussetzungen für unsere Erfolge geschaffen hat. Ich werde diesen Ehrenring im Namen aller tragen.“

Kurzbiograhie

1949 Abitur, anschließend Ausbildung zur Elektrotechnikerin.

1952-1957 Studium an der Technischen Universität Dresden, zunächst Elektrotechnik, später Mathematik und Physik.

1957 Fortsetzung des Studiums an der Technischen Hochschule Darmstadt in Mathematik und Regelungstechnik mit Unterbrechungen durch Industrietätigkeit; Diplom-Prüfung in Mathematik 1962.

1959 Eintritt in die Firma Bölkow KG in Ottobrunn. Ab 1963 bereits als Leiterin, Aufbau und später Führung einer Hauptabteilung für Regelung und Simulation mit den Aufgabenschwerpunkten Lenkflugkörper, Trägerraketen, Trag- und Führungssysteme für Magnetbahnen, basierend auf gesteuerten Elektromagneten und Bahn- und Lageregelungssysteme für wissenschaftliche und Kommunikationssatelliten.

1983 Promotion an der TU München zum Dr.-Ing. mit der Dissertation „Das Magnetische Rad als autonome Funktionseinheit modularer Trag- und Führungssysteme für Magnetbahnen“.

Ab 1989 Lehrauftrag an der Universität Stuttgart im Fach „Regelungsprobleme in der Raumfahrt“.

1996 Ernennung zur Honorarprofessorin an der Universität Stuttgart.

Fellow der International Federation on Automatik Control (IFAC)

Honorarprofessorin der Technischen Universtät München.