Nathalie von Siemens‘ bewegende Abschlussrede der Ringverleihung 2024
Die Ururenkelin Werner von Siemens‘ hatte am Abend des 13. Dezember eine klare Botschaft: Ein eindringlicher Aufruf zu Dialog und Zusammenarbeit. Auch die Preisträger des Abends, Peter Kürz und Michael Kösters, erreichten den Durchbruch in der Halbleitertechnologie gemeinsam mit ihren Teams. Was es für Erfolg außerdem braucht? Eine musikalische Metapher: Wenn wir hart arbeiten (so wie Bach) und einen Raum für Innovation öffnen (nach dem Beispiel Miles Davis‘), lässt sich eine bessere Welt gestalten.
Als im Anschluss an die Rede von Nathalie von Siemens der 42. Werner-von-Siemens-Ring an Peter Kürz und Michael Kösters verliehen wurde, wussten alle im Saal: Hier wurde etwas Besonderes erreicht. Die High-NA-EUV-Lithographie ist „eine technologische Gelingensbedingung unseres Zeitalters der Digitalität“. Und sie ist ein Beispiel dafür, wie Beharrlichkeit, Teamwork, Wertschätzung und Vertrauen am Ende zu Erfolg führen. Neues, so Nathalie von Siemens, „kommt nur in die Welt, wenn wir den Mut haben, Bekanntes loszulassen.“ Das Publikum quittierte die Rede mit langanhaltendem, begeistertem Applaus.
Die Abschlussrede von Nathalie von Siemens
„Ich musste hart arbeiten. Wer ebenso fleißig ist, wird ebenso erfolgreich sein.“
„Haben Sie keine Angst vor Fehlern, es gibt keine.“
Lieber Herr Kürz, lieber Herr Kösters, liebe Festgäste,
nein, keinen dieser Sätze hat Werner von Siemens gesagt. Keinen dieser Sätze haben die diesjährigen Preisträger gesagt. Und trotzdem liegt das, was wir heute Abend feiern, genau im Spannungsraum zwischen diesen beiden Zitaten.
Vor ein paar Tagen haben Sie, lieber Herr Kösters, und Sie, lieber Herr Kürz, mir Zeit für ein persönliches Kennenlernen gegeben. Natürlich habe ich die Nobelpreisfrage gestellt: Was denkt man, wenn man diesen Anruf von Frau Professor Denz bekommt? Ihre Gedanken gingen von „Was gibt es Neues von der PTB? Kann ich etwas beitragen?“ über „Bin ich der Richtige?“ bis „Aber das gebührt doch dem Team!“
Sie haben mir von diesen Teams erzählt, mit großer Wertschätzung für die Kompetenzen von jeder und jedem Einzelnen. Sie haben voller Liebe und Dankbarkeit von Ihren Familien gesprochen, die starken Kraftquellen in Ihrer beider Werdegang. Und, Sie haben voller Hochachtung von Ihren Unternehmen gesprochen, von ZEISS und TRUMPF, die Ihnen Führung und Investitionen anvertraut haben, zu einem Zeitpunkt als unklar war, ob Ihre Aufgabe überhaupt technisch machbar sein würde. Sie haben erzählt, dass Ihnen dieses Vertrauen immer wieder neu ausgesprochen wurde; vor allem und gerade dann, wenn Sie an sich selbst und am Gelingen zweifelten. Gelungen ist die industrielle Nutzbarmachung der High-NA-EUV-Lithographie, nichts weniger als eine technologische Gelingensbedingung unseres Zeitalters der Digitalität.
Es ist „the most complicated complex machine“. Ausgangspunkt Ihrer Arbeit war das Mooresche Gesetz, wonach sich die Zahl der Transistoren integrierter Schaltkreise alle 18 Monate verdoppelt. An dieser Gesetzmäßigkeit richten sich die Halbleiterindustrie und ihre Entwicklungspläne auf mehrere Jahre im Voraus aus. Die Taktung der Halbleiterindustrie und ihre Erwartung an Funktionalität waren klar. Nur war ebenso klar, dass der Erfüllung dieser Erwartung durch Verkleinerung von Elementen irgendwann physikalische Grenzen gesetzt sind. Ihre Aufgabe war damit auch klar: Sie sollten etwas so radikal Neues entwickeln, dass eben dieselben Gesetze der Physik einen bislang unbekannten Raum des Möglichen beschreiben. An die Taktung der Halbleiterindustrie denkend, sagten Sie im Rückblick: „Geplant war Bach, herausgekommen ist Jazz.“
Das erste Zitat ist von Johann Sebastian Bach. Ohne die harte Arbeit und den Fleiß von Bach hätten Sie nicht erfolgreich sein können. Das zweite Zitat ist von Miles Davis. Nichts verhindert Innovation wirksamer als Angst. Vor allem die Angst vor Fehlern. Und Miles Davis sagt weiter: „When you hit the wrong note, it’s the next note, that makes it good or bad.“
Das Wesen von Improvisation ist nicht Beliebigkeit, sondern Offenheit für das, was eben noch nicht dasteht. Offenheit für einen Raum, in dem die neue Klangfolge aufgrund sich ständig weiter entwickelnder Vorgaben in der Ausführung selbst entsteht. Die Musikalität im Zusammenspiel mit Anderen wird dann weniger durch den Auftakt des Einen gegeben, sondern erschließt sich immer neu aus dem jeweils nächsten Ton der Anderen.
Lieber Herr Kösters, lieber Herr Kürz, in unserem Gespräch ist nicht ein einziges Mal das Wort Ergebnis gefallen. Sie haben vielmehr von Neugier gesprochen, vom Verschieben von Grenzen und vom selber Wachsen. Sie haben das alles einen Weg genannt, der völlig irre war. Oft haben Sie im Team gerungen, weil alles festgefahren war. Einen Weg nach vorne haben Sie immer wieder dadurch eröffnet, dass Sie Randbedingungen verändert haben. Das Verändern von Randbedingungen hat dem Team Freiräume eröffnet. Freiräume für den Jazz.
Neues kommt nur in die Welt, wenn wir den Mut haben, Bekanntes loszulassen. Das heißt nicht, dass Innovation im Team durch Beliebigkeit entsteht, sondern durch Selbstorganisation. Teams werden innovativ, wenn der unbekannte Gedanke des Einen eben nicht als Unsinn oder Fehler abgetan wird, sondern als Anlass zum Perspektivwechsel umarmt wird. Wenn alle im Team davon ausgehen, dass jeder Beitrag aus guter Absicht kommt und in dem, was ich nicht verstehe, vielleicht der Nukleus der Lösung liegt.
Die digitale Revolution hat das Potenzial, das Leben aller Menschen besser zu machen. Wenn wir uns für einen guten Weg entscheiden und in Bildung und Wissenschaft, in Kultur und Politik, in Technologie und Unternehmertum im Dialog bleiben.
Nathalie von Siemens
In Ihren Teams, lieber Herr Kürz, lieber Herr Kösters, konnten Lösungen gefunden werden, weil im Dialog Kompromisse möglich waren. Das haben Sie beide als einen guten Weg beschrieben, als einen Weg in die Zukunft. Und einen guten Weg in die Zukunft brauchen wir alle so, so dringend. Die neolithische Revolution mit der Entwicklung der Landwirtschaft hat die Menschheit 20.000 Jahre geprägt. Die industrielle Revolution war 200 Jahre dominant. Die digitale Revolution wird für mindestens so radikale Veränderungen wie ihre beiden Vorgängerinnen vermutlich nur noch weitere 20 Jahre brauchen. Das fühlt sich an wie Sturm, Erdbeben und Tsunami zugleich. Wieder haben viele Menschen Angst um ihre Lebensgrundlage und um ihre Jobs. Wieder sehen wir soziale Spaltung, neue schwerste ökologische Schulden, erstarkende Autokratien und Krieg. Dabei liegt in der technologischen und wirtschaftlichen Disruption so viel Chance. Die neolithische und die industrielle Revolution haben sehr vielen Menschen ein besseres Leben ermöglicht.
Die digitale Revolution hat das Potenzial, das Leben aller Menschen besser zu machen. Wenn wir uns für einen guten Weg entscheiden und in Bildung und Wissenschaft, in Kultur und Politik, in Technologie und Unternehmertum im Dialog bleiben. Wenn wir uns als Gesellschaften nicht wütend Verschwörungsnarrative entgegenschreien, sondern im Gespräch bleiben, um Kompromisse und Lösungen zu finden. Wenn wir uns von Ihnen, lieber Herr Kürz, lieber Herr Kösters, zum Jazz inspirieren lassen.
Und was hat das jetzt alles mit Werner von Siemens zu tun? Naja, irgendwie alles. Eine Unternehmenskultur der Weitsicht. Etablierte Unternehmen, die schon seit Jahrzehnten alles andere als langweilig sind. Teamarbeit, die Freiraum lässt für Fehler und für Neues. Eine Basistechnologie, die am Beginn eines neuen Zeitalters steht. Und dann sind da die Elektronen, einst auf die Reise geschickt von Werner von Siemens‘ Elektrotechnik, um den Menschen Kraft zum Antrieb von Maschinen zu schenken. Mit Hilfe derselben Elektronen schenken uns heute Transistoren Rechenkraft. Dank der industriellen Nutzbarmachung der High-NA-EUV-Lithographie ist die Reise der Elektronen zu immer größerer Intelligenz im Dienst der Menschen noch lange nicht zu Ende. Wie Sie beide sagten: Es geht weiter. Lieber Herr Kösters, lieber Herr Kürz, es ist eine Ehre und eine Freude, anlässlich Ihrer Auszeichnung mit dem Werner von Siemensring sprechen zu dürfen und ich darf Ihnen auch im Namen meiner Familie von Herzen gratulieren.