Am 13. Dezember wurden der 40. und 41. Werner-von-Siemens-Ring verliehen. Zum einen an Prof. Dr. Stefan Hell vom Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften für die Entwicklung der Nanomikroskopie, die den Blick auf die molekulare Ebene in lebenden Zellen erlaubt. Zum anderen an das BioNTech-Team bestehend aus Prof. Dr. Christoph Huber, Prof. Katalin Karikó, PhD, Prof. Dr. Uğur Şahin und Prof. Dr. Özlem Türeci für die Erschließung der mRNA-Technologie, die damit ein neues Zeitalter der medizinischen Praxis eröffnet haben.
In seinem Grußwort betont Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, welche politischen Signale und Haltung es braucht, damit weitere Erfolgsgeschichten wie die der Preisträger:innen in Deutschland möglich werden.
Was für ein wunderbarer Anblick Sie sind!
Sehr geehrte Frau Denz, sehr geehrte Frau von Siemens, lieber Oliver Günther, Exzellenzen, Präsidentinnen, Präsidenten, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich habe eben gedacht, in der langen Aufzählung großer Menschen von Frau Denz waren ganz schön viel Niedersachsen dabei – jedenfalls Menschen, die Stationen in Niedersachsen hatten – was mich sehr stolz gemacht hat. Sie selbst [Frau Denz] sind jetzt in Braunschweig tätig. Herr Hell, wir haben uns in Göttingen kennengelernt. Aber wir wissen, es gibt auch andere Landesteile. Also auch einen schönen Gruß an alle, die rheinland-pfälzischen Migrationshintergrund haben.
Aber meine Damen und Herren, ganz im Ernst, was könnte es für einen tolleren Tag geben als den 13. Dezember? Nicht nur des Geburtstags von Werner von Siemens wegen, sondern weil der 13. Dezember auch in anderer Hinsicht ein historischer Tag ist. Vor über 130 Jahren wurde hier in Berlin Technikgeschichte geschrieben. Und zwar genau an diesem Ort, der Akademie der Wissenschaften. Und genau an diesem Tag, dem 13. Dezember, ein Jahr, bevor die physikalisch-technische Reichsanstalt gegründet wurde. Damals, im Jahre 1886, gab der Physiker Heinrich Hertz eine wissenschaftliche Sensation bekannt: die Entdeckung der elektromagnetischen Wellen.
Also in einer Zeit während die zweite industrielle Revolution mit Fließbandarbeit und Massenproduktion gerade erst ein bisschen Fahrt aufnahm, wurden hier an diesem Ort bereits die Grundlagen für die dritte und vierte industrielle Revolution gelegt. Es war die Geburt der drahtlosen Kommunikation, der modernen Informationstechnik, einer Technologie, ohne die unser heutiges Leben nicht mehr vorstellbar wäre.
Allerdings war der Begriff der Sprunginnovation damals noch nicht so richtig verbreitet. Das waren schon immer große Entwicklungssprünge als Ergebnis genialer Ideen: der Buchdruck, die Dampfmaschine, die Glühbirne, der Dynamo – natürlich eine Erfindung von Werner von Siemens – aber auch der erste Computer von Konrad Zuse oder, um ein jüngeres Beispiel zu nehmen, der Durchbruch der Bilderkennung auf Grundlage künstlicher Intelligenz vor genau 10 Jahren.
Und, ich kann es nicht anders sagen – wir haben uns eben kurz ausgetauscht – wir haben uns tatsächlich in Göttingen kennengelernt. Als damals stellvertretender Vorsitzender meiner Fraktionen zuständig für Wissenschaftspolitik lud mich mein damaliger, leider viel zu früh verstorbener Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann, zu einer gemeinsamen Klausur der damaligen großen koalitionären Fraktion ein. Wir waren so stolz, einen Nobelpreisträger zu sehen; jemanden der unser Land verändert hat und die Welt auch.
Aber es geht weiter, meine Damen und Herren und es geht immer weiter. Täglich wird an neuen bahnbrechenden Lösungen gefeilt: in der IT, in der Biotechnologie oder in der Nanophysik. Und nicht selten folgt auf Innovation auch Revolution. Was der ersten, zweiten, dritten und vierten industriellen Revolution gemein ist: Sie brachten Fortschritt – zunächst technologisch, dann auch ökonomisch. Doch die Folge – das muss ein Arbeits- und Sozialminister hervorheben – die Folge war dann auch sozialer Fortschritt; allerdings nicht immer von allein.
Es musste auch viel dafür gekämpft werden. Es ist interessanterweise dieser soziale Fortschritt, der heute nicht nur Folge, sondern auch grundlegende Bedingung für Wachstum und Wohlstand ist. Jedenfalls ist das Bekenntnis zu Fortschritt in unserem Land überlebensnotwendig, wenn wir ein modernes Land bleiben wollen. Und das sage ich gerade in diesen Tagen und diesen Zeiten. In diesen Zeiten ist das Bekenntnis zu einem umfassenden Fortschrittsbegriff auch ein politisches Statement. Ich meine die Zeiten, in denen Revanchismus, Nationalismus, der Bruch des Völkerrechts, die Missachtung von grundlegenden Menschen- und Freiheitsrechten zunehmen. Und das nicht nur durch den russischen Angriffskrieg, sondern beispielsweise auch in einem Wissenschaftsland wie dem Iran.
Meine Damen und Herren, aber klar ist, dass Fortschritt immer auch Forschung braucht und deshalb ist es gut, dass wir in Deutschland exzellente Forscherinnen und Forscher haben. Und es ist mir tatsächlich heute eine große Ehre und eine große Freude, an dieser Veranstaltung teilnehmen zu dürfen. Die Forscherinnen und Forscher, die heute ausgezeichnet werden, haben wirklich Großartiges – man muss sagen Revolutionäres – geleistet. Und das nicht nur in ihrer Disziplin und für ihre Disziplin, sondern für uns alle – nicht nur als Volkswirtschaft, als Gesellschaft, sondern auch als Weltgesellschaft. Sie haben Geheimnisse der Natur entschlüsselt und sind vorgedrungen in bisher nicht bekanntes Terrain – oder um eine alte Fernsehserie zu zitieren, in unendliche Weiten – sei es auf dem Gebiet der mRNA oder der Mikroskopie.
Sie haben Zeit, Sie haben Kraft und Sie haben Geld investiert und das ohne Garantie auf Erfolg. Und ja, Sie haben wahrscheinlich auch Rückschläge ertragen und Sie waren mutig und ausdauernd. Von diesem Engagement profitieren wir dann heute alle und dafür, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, sind wir Ihnen allen sehr dankbar. Meine Damen und Herren, wir müssen das jetzt mal per Applaus ausdrücken. [Applaus]
Man möge sich die Welt gar nicht mehr ohne Ihre Erfindungen vorstellen. Das meine ich sehr ernst. Innovationen machen uns stark für die Zukunft. Aber sie machen uns eben auch stark in Krisen. In der Pandemie ist uns das allen auf furchtbare Weise bewusstgeworden und auf glückliche Art und Weise. Denn Forschung war nicht nur Kür, sondern Pflicht in einem hochentwickelten Land. Sie machen uns also nicht nur zukunftsfähig durch ihre Arbeit, sondern auch widerstandsfähig in schwierigen Zeiten; um den in diesen Tagen oft strapazierten Begriff der Resilienz zu stressen.
Lassen Sie mich noch einen Gedanken festhalten, der mich besonders beschäftigt und mir sowohl politisch als auch persönlich sehr am Herzen liegt. Gute Forschung braucht die Ausstattung mit entsprechenden Ressourcen und bevor sie jetzt Finanzverhandlungen mit mir führen wollen – ich sehe die Präsidentinnen und Präsidenten der großen außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Gemeinschaften – ich meine nicht nur die Ausstattung mit finanziellen Mitteln und das Bekenntnis zu berühmten Prozentzielen einer Volkswirtschaft, sondern ich meine die berühmten Human Resources, also die Arbeits- und Fachkräfte in diesem Land.
Ich sage das in vollem Bewusstsein, dass wir uns nicht auf dem ausruhen dürfen, was uns stark gemacht hat in unserem Land. Wir müssen offen und – ich füge hinzu – offener werden für kluge Köpfe und das aus aller Welt. Das heißt auch, dass wir uns in diesen Tagen sehr deutlich zu Einwanderung und Zuwanderung bekennen müssen. Wir erleben leider zu häufig, dass Qualifizierte einen Bogen um unser Land machen und das nicht nur wegen des Wetters und der Sprache. Und es gibt eine weitverbreitete Illusion leider noch in größeren Teilen unserer Gesellschaft, dass alle qualifizierten Arbeits- und Fachkräfte nichts Sehnlicheres vorhaben als nach Deutschland zu kommen. Man kann mathematisch nachweisen, dass wir ein paar Nachteile haben. Nur etwa 100 Millionen Menschen auf der Welt sprechen unsere wunderbare Sprache. Und 80 Millionen wohnen schon hier. Und ein paar auch noch in Österreich und in der Schweiz. Das heißt, wir haben im Verhältnis zu anderen klassischen Einwanderungsländern, zu angelsächsischen Ländern oder auch frankophonen Ländern oder Spanisch sprechenden Ländern, schon einen gewissen Wettbewerbsnachteil.
Es liegt auch – und das muss man offen sagen – an der Bürokratie und den Rahmenbedingungen, dass Menschen einen Bogen um unser Land machen. Das aber, meine Damen und Herren, sind Dinge, die wir ändern können, im Gegensatz zu Sprache und Wetter. Und an denen müssen wir arbeiten. Deutschland muss attraktiver werden für Qualifizierte aus der gesamten Welt und ich will das sagen mit Blick auf etwas, was ich als Arbeits- und Sozialminister sehr gut kenne, nämlich die Demografie dieses Landes. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung – auch eine hochdirektorierte Wissenschaftseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit – hat hochgerechnet, dass uns bis 2035 in Deutschland 7 Millionen Arbeitskräfte fehlen. Und wer sich im Moment schon über Arbeits- und Fachkräftemangel in verschiedensten Teilen der Wirtschaft als Wachstumsbremse beklagt, der weiß, die eigentliche Aufgabe liegt noch vor uns. Ab 2025 wird die Generation der Babyboomerinnen und Babyboomer, also der vor 1964 Geborenen, in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Ich bin Jahrgang 1972, das sind schon ein paar weniger. Dazwischen gab es auch eine Sprunginnovation, nämlich die Pille. Und das wächst sich so durch. Wir müssen Antworten darauf finden und die Antworten finden sich darin, dass wir tatsächlich beides tun müssen: alle inländischen Potenziale zu nutzen und zu heben und qualifizierte Zuwanderung zu organisieren. Wer etwas erreichen will mit Talent und Tatkraft, der soll es hier bei uns in Deutschland versuchen können. Davon profitieren auch innovative Unternehmen wie BioNTech und damit wir alle.
Es geht wie gesagt nicht nur um Einwanderung. Es ist genauso wichtig, dass wir jedem Menschen in Deutschland eine Chance geben, der schon hier ist. Ich spreche von der sozialen Durchlässigkeit unserer Bildungssysteme. Es ist kein guter Befund, dass in Deutschland Talent und Leistung nicht so stark zählen wie Herkunft. Wir können es uns weder gesellschaftlich noch ökonomisch leisten. Das fängt an in unseren Kitas, Familien und Schulen. Das setzt sich fort über die Frage von Berufsorientierung an Schulen. Wenn sie mich persönlich fragen, ich wünsche mir ab der fünften Klasse in jeder Schulform in Deutschland Berufsorientierung. Mein Kind hat gerade so ein Fach. Mein Sohn ist zehn Jahre alt. Er hat ein Fach, das heißt Arbeit, Technik, Wirtschaft. Ich glaube, es wird ihm nicht schaden. Ich wünsche mir das für alle, ob sie dann einen beruflichen oder einen akademischen Bildungsweg oder einen Hybrid davon eingehen, ist nicht die entscheidende Frage.
Wir haben viel zu viele, die auf der Strecke bleiben. Wir reden über Arbeits- und Fachkräftemangel und haben 45.000 Schülerinnen und Schüler, die jedes Jahr unsere Schule verlassen ohne Schulabschluss. Das ist der Nachwuchs für Hartz IV, hätte ich vor ein paar Wochen gesagt. Jetzt muss ich sagen, das ist Nachwuchs des Bürgergelds. Aber den wollen wir nicht.
Wir reden über Arbeits- und Fachkräftemangel und haben 1,3 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 ohne berufliche Erstausbildung. Wir reden über Arbeits- und Fachkräftemangel und haben ein ungehobenes, großes Potenzial von gut ausgebildeten Frauen in Deutschland, die zwar auf den ersten Blick, was die Erwerbsbeteiligung betrifft, inzwischen viel besser am Arbeitsmarkt präsent sind als noch vor 20, 30 Jahren, aber, wenn man sich das Arbeitszeitvolumen anguckt, man doch eher Männer in Vollzeit erlebt und Frauen oft auch ungewollt in Teilzeit. Wir werden all diese Register noch mehr im Inland ziehen müssen. Und trotzdem brauchen wir massiv qualifizierte Zuwanderung. Das ist der Grund, warum wir als Bundesregierung ein Einwanderungsgesetz in Eckpunkten beschlossen haben. Ich weiß aber und bitte Sie um Unterstützung in der Debatte, die darauffolgt, weil Migrationsdebatten nie einfach sind für eine Gesellschaft.
Wir müssen nicht nur ein Gesetz machen, wir müssen nicht nur wie in der Vergangenheit irgendwie qualifizierte Zuwanderung mühsam bürokratisch hinnehmen. Wir müssen sie wollen und zwar gesellschaftlich und übrigens auch in der Administration. Was nützt das modernste Einwanderungsgesetz, wenn die deutschen Auslandsvertretungen unglaublich lange brauchen, um Visa zu erteilen? Was nützt es, ein besseres Einwanderungsgesetz zu haben und so – mit Verlaub – lahmarschig zu sein wie wir es sind, was die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen betrifft? Und was nützt das modernste Einwanderungsgesetz, wenn man nicht den alten Satz beherzigt: Es kommen nicht nur Arbeitskräfte, es kommen Menschen. Und wir werden Integration nicht nur anbieten, sondern wir werden einladend sein müssen. Ich bin der festen Überzeugung, dass uns das gelingen kann, gelingen wird in Deutschland und dass die Tatsache, dass es in der Vergangenheit nicht gelungen ist, keine Ausrede ist, es nicht anzugehen. Und ich werbe ganz bewusst, bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, bei den Unternehmerinnen und Unternehmern, die heute hier sind, dieses politische Projekt in unserem allgemeinen, eigenen Interesse zu unterstützen, damit wir ein Fortschrittsland bleiben. Denn Integration, meine Damen und Herren, schafft auch Innovationen.
Lieber Herr Şahin, liebe Frau Türeci, liebe Frau Karikó, lieber Herr Huber, Sie haben ja, wie gesagt, jetzt alle rheinland-pfälzischen Migrationshintergrund. Sie sind die lebenden Beispiele dafür, dass ein Land, das nicht nur technologischen Fortschritt haben will, sondern auch wirtschaftlichen und sozialen, von Vielfalt lebt und nicht von Einfalt. Und von Ihren guten Beispielen müssen wir ein bisschen mehr in Deutschland lernen, das ist meine feste Überzeugung.
Der Ökonom Richard Florida hat vor 20 Jahren mal ein Buch geschrieben über das Aufkommen einer kreativen Klasse. Und als Sozialdemokrat bin ich kein Fan von Klassen, außer es geht um die Schule meiner Kinder. Aber er sprach in seinem Buch The rise of the creative class über Standortbedingungen, die einen modernen Staat, eine moderne Volkswirtschaft und eine offene Gesellschaft ausmachen. Und er hat von drei Ts gesprochen, die man braucht, um erfolgreich zu sein in der Zukunft: von Technologie, von Talenten und von Toleranz. Und ich finde, das ist in dem Sinne dessen, was ich eben beschrieben habe.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir reden in diesen Tagen sehr, sehr viel über große Probleme, über steigende Preise, über mangelnde Fachkräfte, über Lieferengpässe. Und keine Frage, die Krisenbewältigung ist das Gebot der Stunde. Denn wir dürfen nicht zulassen, dass Putin mit dem Einsatz von Gas als Waffe unsere Gesellschaft sozial spaltet und wirtschaftlich so beschädigt, wie er es vorhat. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern das sind seine eigenen Reden, damit unsere Solidarität mit der Ukraine zusammenbricht. Aber bei aller Notwendigkeit, Krisenmanagement zu betreiben in Unternehmen, in der Politik, im Staat – wir müssen nicht nur Krise meistern, wir müssen Fortschritt machen, um ein starkes Land zu bleiben. Und, meine Damen und Herren, jetzt mal ein Nicht-Naturwissenschaftler im Zitat; im besten Sinne dessen, was Bert Brecht in seiner berühmten Kinderhymne bezeichnet: Und weil wir unser Land verbessern, behüten und beschirmen wir es und das Beste mag‘s uns scheinen wie den anderen Ländern ihrs.
In diesem Sinne setzt der Werner-von-Siemens-Ring ein deutliches Zeichen in dieser Zeit. Meinen herzlichen Dank an diejenigen, die das vorbereitet haben. Mein ganz großer Dank und mein großer Respekt an die wunderbaren Preisträgerinnen und Preisträger. Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung!
Aufzeichnung der Festveranstaltung
Grußwort von Bundesminister Hubertus Heil ab 00:32:00.