Stiftung Werner-von-Siemens-Ring | Rede Özlem Türeci Verleihung Werner-von-Siemens-Ring 2022

„Translate science to survival“ – Rede der Preisträgerin Özlem Türeci zur Ringverleihung 2022

Özlem Türeci am Rednerpult der Verleihung des Werner-von-Siemens-Ring 2022, unten links Logo der Stiftung Werner-von-Siemens-Ring. Bild: Lars Hübner

Am 13. Dezember wurden der 40. und 41. Werner-von-Siemens-Ring verliehen. Zum einen an Prof. Dr. Stefan Hell vom Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften für die Entwicklung der Nanomikroskopie, die den Blick auf die molekulare Ebene in lebenden Zellen erlaubt. Zum anderen an das BioNTech-Team bestehend aus Prof. Dr. Christoph Huber, Prof. Katalin Karikó, PhD, Prof. Dr. Uğur Şahin und Prof. Dr. Özlem Türeci für die Erschließung der mRNA-Technologie, die damit ein neues Zeitalter der medizinischen Praxis eröffnet haben.

In ihrer Rede zur Preisverleihung erzählt Özlem Türeci, wie sie mit dem BioNTech-Team ein neues Kapitel Geschichte einläutete.

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Mitglieder des Stiftungsrats, liebe Gäste,

im Namen meiner drei Partner möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie uns für würdig empfunden haben, diese ganz besondere Auszeichnung entgegenzunehmen. Wir fühlen uns sehr geehrt. Insbesondere auch, weil dieser Preis eine ganz besondere Bedeutung für uns hat. Der Werner-von-Siemens-Ring erkennt und zelebriert das Zusammenspiel von Forschergeist, Unternehmertum und Zukunftsverantwortung sowohl im Kleinen für den wissenschaftlichen Nachwuchs als auch im Großen für die Gesellschaft. Das spiegelt auch die Lebensphilosophie von uns vieren wider. Wir als Forscher und Unternehmer wollen Wissenschaft nach der Maxime „translate science to survival and to health“ übersetzen, sodass sie den Menschen nutzt. Dieser Leitgedanke ist im Einklang mit dem dieser Stiftung.

Diese Auszeichnung sehen wir auch als Würdigung der Generation an Wissenschaftlern, die zum Entdecken und Erforschen der RNA beigetragen und damit als Wegbereiter ihrer Anwendung zu gelten haben. Forschung passiert immer über Generationen hinweg und wir können als Forscher stets auf dem aufbauen, was andere Forscher an Wegen bereitet haben.

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um in unser aller Namen unseren Weggefährten zu danken, die uns auf dieser langen Reise begleitet haben. Einige von ihnen sind hier. Ganz herzlichen Dank, dass ihr mit uns zu diesem Anlass hier seid. Wir möchten uns auch bei unseren fantastischen Mitarbeitern bedanken, die uns begleitet haben. Unsere Reise begann vor vielen Jahren an unterschiedlichen Orten und mit unterschiedlicher Motivation: Die Biochemikerin und unsere Freundin Katalin Karikó war interessiert an einer Technologie, die Proteinersatztherapie ermöglichen würde. Wir drei Mediziner waren parallel dazu aus Verantwortung unseren Krebspatienten gegenüber interessiert daran, einen Impfstoff gegen Krebs zu entwickeln.

Impfstoff – das bedeutet, dem Immunsystem ein Fahndungsfoto zu kommunizieren, das es dem Immunsystem ermöglicht, eine Hochpräzisionsimmunantwort gegen den bestehenden Krebs im Patienten einzuleiten. Wir dachten uns, wenn Krebserkrankungen so individuell sind und Therapien daran scheitern, dass wir immer nach der „One-fits-all-Medizin“ suchen, ist es dann nicht möglich, eine Krebsimpfung maßgeschneidert und „on demand“ für jeden einzelnen Patienten zu entwickeln? Wir erkannten das enorme Potenzial von RNA für diesen Zweck. RNA als die ursprünglichste Form der Informationstechnologie, der Kommunikation. Von der Natur erfunden, um die Information der DNA, der Erbsubstanz, in Proteine zu übertragen, den Funktionsträgern des Lebens. Ein Molekül, das transient wirksam ist, seine Information überträgt und dann wieder verschwindet.

Uns war allerdings bewusst, dass RNA neben dem großen Potenzial auch bedeutet, dass eine beträchtliche Forschung und Entwicklung nötig war, um dieses Molekül für den präventiven oder therapeutischen Einsatz am Menschen fit zu machen. Wir haben mehr als zwei Dekaden investiert.

Es fing an mit dem Kernproblem der RNA, dem Grund, warum sie von vielen Forschern insbesondere in den 90ern vernachlässigt worden ist: Wenn RNA einer Zelle von außen zugeführt wird, hat sie eine geringe Stabilität und geringe Potenz. Sie überlebt nicht lange in der Zelle, weil sie eine Abwehrreaktion auslöst und mit den zelleigenen RNAs konkurrieren muss, die in jeder Zelle vorkommen. Wie erhält man nun RNA länger in der Zelle, um mehr Proteine von ihr produzieren zu lassen? Denn je mehr Proteine produziert werden, umso höher der Wirkungsgrad, umso höher die Potenz. Dieses Problem haben wir durch „molekulares Engineering“ gelöst. Wir hatten dafür verschiedene Ansätze:

Unsere Partnerin Katalin hat im Rahmen ihrer Forschung festgestellt, dass sie die Abwehrreaktion der Zelle, die die weitere Nutzung von RNA unterbindet, verhindern kann, indem sie einen der vier Bausteine der RNA modifiziert. Durch diese Nukleosidmodifikation kann eine Art Tarnkappenmodus herbeigeführt und die Abwehrreaktion ausgehebelt werden. Die RNA kann schließlich translatiert werden.

Christoph, Uğur und ich haben einen anderen Weg begangen. Wir haben festgestellt, dass die Strukturelemente, die sozusagen die Steuerungselemente der RNA sind und als Regulatoren links und rechts vom zu vermittelnden Fahndungsfoto sitzen, neu designt werden können – jedes einzelne von ihnen. Auf diese Art und Weise kann die Stabilität der RNA in der Zelle erhöht werden. Man kann sie folglich mit einem VIP-Pass versehen.

In unserem COVID-19-Impfstoff zum Beispiel haben wir beide Ansätze miteinander kombiniert und so eine sehr hohe Potenz bei einer gleichzeitig niedrigen Dosierung erreichen können.

Die nächste wichtige Frage: Wohin müssen wir einen mRNA-Impfstoff im Körper lotsen und wie genau machen wir das? Auch das ist eine Frage, die uns viele Jahre beschäftigt hat. Wir haben uns das von der Natur abgeschaut. Möchte man eine Immunantwort auslösen, dann geschieht diese natürlicherweise in ganz bestimmten Organen, nämlich in den sogenannten lymphatischen Geweben des Körpers. Diese sind die Bootcamps des Immunsystems, in denen sich spezialisierte Zellen, sogenannte dendritische Zellen, befinden, die sozusagen die Hochleistungstrainer sind. Wenn die dendritischen Zellen wissen, wie das Fahndungsfoto aussieht, können sie eine starke und präzise Immunantwort induzieren. Folglich war es die Aufgabe, mRNA-Impfstoffe genau dorthin zu bringen. Zu diesem Zweck haben wir Einpackmechanismen aus Lipiden entwickelt und konnten dadurch diesen Body Hack schaffen.

Schließlich haben wir uns mit der dritten Frage beschäftigt: Wie können wir individualisierte Impfstoffe in klinisch relevanten Zeitfenstern herstellen? Unsere große Vision war es und ist es auch noch nach wie vor, maßgeschneiderte Impfstoffe für Krebspatienten herzustellen. Individualisierte Impfung bedeutet zunächst, die Erkennungsmerkmale des Tumors eines Patienten zu charakterisieren. Diese sind bei jedem Patienten unterschiedlich und damit unikal. Darauf basierend designen wir einen mRNA-Impfstoff und stellen ihn schließlich maßgeschneidert und on demand her.

Wir haben damit vor vielen Jahren begonnen. 2013 konnten wir erstmalig Patienten mit diesem Ansatz in unseren Studien behandeln. Zu Beginn hat das Herstellen eines maßgeschneiderten Impfstoffes für jeden einzelnen Patienten noch drei bis sechs Monate gedauert. Inzwischen, nach vielen Jahren und vielen Innovationen, sind wir bereits bei drei bis sechs Wochen.

Bis 2019 hatten wir hunderte von Krebspatienten an vielen Orten der Welt in unseren klinischen Studien mit individualisierten mRNA-Impfstoffen aus Mainz behandelt. Jedes Mal war es ein Wettlauf gegen die Tumorerkrankung, was uns dazu angetrieben hat, optimierte Methoden und eine Sensibilität für Dringlichkeit zu entwickeln. Es waren genau die mRNA-Technologie, die Methoden, die wir entwickelt hatten, und unsere Sensibilität für Dringlichkeit, die uns an dem schicksalhaften Wochenende im Januar 2020 dazu befähigten und bewegten, mit einem Impfstoffentwicklungsprogramm zu handeln. Genau dann, als wir verstanden, dass die Welt sich in einer Pandemie befand und nie wieder so sein würde, wie wir sie kannten.

Wir verspürten die Verantwortung, mit dem über viele Jahre Erforschten und Entwickelten zur Bewältigung dieser anbrechenden Krise beizutragen – so sind Wissenschaftler, das wissen Sie alle, die Sie hier sind.

Das nächste Kapitel dieser Geschichte ist vielen bekannt: die Entwicklung unseres Impfstoffes noch innerhalb des Jahres 2020. Das Programm haben wir Project Lightspeed genannt. Unsere Mission, das Potenzial der RNA-Technologie zu nutzen, ist mit Zulassung eines mRNA-basierten COVID-19-Impfstoffes allerdings nicht zu Ende.

Wir alle wissen: Die Evolution von SARS-CoV-2 ist noch immer dynamisch. Und die Verfügbarkeit von an Virusvarianten angepassten mRNA-Impfstoffen zeigt weitere Nutzungsmöglichkeiten der RNA. Sie zeigt auf, wo die Impfstoffentwicklung in der Zukunft hingehen kann.

Wir sind überzeugt, dass RNA weit darüber hinaus ein transformatives Potenzial haben wird und uns helfen wird, die Vision von individualisierten Krebsimpfstoffen zu erfüllen. Durch ihre Versatilität, eine miniaturisierte Produktion, die Möglichkeit zur Parallelproduktion sowie durch den Rückenwind von Industrie 4.0, die hier in Deutschland ihren Ursprung hat, ist die mRNA-Technologie ein Ansatz, um eine Individualisierung von Krebsbehandlungen tatsächlich zu realisieren.

Wir sind aber auch überzeugt, dass RNA darüber hinaus in anderen therapeutischen Indikationen Möglichkeiten eröffnet, Veränderungen und Verbesserungen der Art und Weise, wie wir Patienten behandeln, zu schaffen, weil sie eine Kommunikationstechnologie ist. Dieses Potenzial sehen wir nicht nur bei Krebs und Infektionserkrankungen, sondern auch zum Beispiel in Autoimmunerkrankungen und der regenerativen Medizin.

Als Wissenschaftler möchte man auch immer den Disclaimer aussprechen. Lassen Sie mich das jetzt am Ende tun: mRNA-Technologie kann sehr viel leisten. Was sie nicht kann, ist zaubern. Wenn man kommunizieren möchte, muss man selbst bei bester Kommunikationstechnologie immer noch –wissen, was man sagen muss und zu wem man es sagen muss. Um das tatsächlich zu können, bleibt auch weiterhin solide wissenschaftliche, neugiergetriebene Mechanismusforschung sowie diligente Technologieentwicklung der Rosetta-Stein in dem Prozess, science to survival zu übersetzen.

Vielen Dank!

Aufzeichnung der Festveranstaltung

Rede von Özlem Türeci ab 01:03:41.